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Anheben in archiv,

Null. Eins.

Die sicherste Sicherheit, die berechenbarste Reihe machte ihm die größten Probleme. Noch mehr Probleme, wenn man seine Dauerschleife an Gedanken so nennen konnte, als die Welt, aus der er sich damals in die Zahlen geflüchtet hatte.

Eins. Zwei.

Seine Aufsichtspersonen hatten ihn in Richtung dieser Zahlen eingenordet, als er mehr und mehr an der Unverlässlichkeit zu beißen hatte, denn die Zahlen schienen ihnen ein verlässlicher Partner. Damals war man noch von der Angst beseelt, dass unzufriedene Kinder nahezu zwanghaft auf die schiefe Bahn geraten mussten. Aus ihrer pädagogisch wertvollen Sicht war wohl das Verantwortungsbewusste gewesen, solchen Schülern und Schülerinnen Aufgaben als Leitbanden zur Seite zu stellen. Die Narren! Und er hatte in seiner Verlorenheit die Schienen nur allzu gerne mit großen Augen angenommen, sie zu Gängen gemauert aufgezogen bis in den Himmel, geweißt zum Aufzeichnen des Folgenden benutzt. Das einzig Spontane an seiner Folge war von da an seine variierende Handschrift und auch bei der ließen sich Muster festmachen.

Die Zahlen gestalteten ein sicheres Zimmer in dem Haus, in dem er mit der Menschheit lebte.

Drei. Fünf.

Doch in all der Sicherheit hatte er schließlich den Riss in der Wand entdecken müssen. Er war so alt, nicht mehr zu sehen, nur beim langsamen Berühren der Zahlen fühlte man seine Präsenz. Aber da war er, und beim ersten Kontakt hatte er sich bei ihm festgesetzt. Jetzt ließ er ihn nicht mehr los. Wo die mathematischten Denker einfach weiterzogen zu hehren Zielen, schrie es ihm entgegen:

Es gab keinen Anfang.

Acht. Dreizehn.

An den Anfang hatte man die Null gesetzt, danach selbstverständlich, wie es scheint, die Eins. Danach lief wieder alles regelrecht ab, nur diese ersten beiden Ziffern hielten sich an nichts. Nur eine Episode, Null. Eins. Pures Chaos, aus dem alles entstand?

Einundzwanzig. Vierunddreißig.

Wenn die Anfänge nicht richtig waren, wie konnten sie dann solche idealen Regelmäßigkeiten hervorbringen, die schließlich die Welt erklären konnten? War die Ordnung der Nachfolgenden gar eine Illusion, die sich Suchende wie er in die unglückliche Zufälligkeit gesetzt hatten, um sich daran festzuhalten? Null. Eins. Erste in einer Welt von Chaoten? Vielleicht hatte Fibonacci einen Fehler gemacht, oder einfach zu früh aufgehört. Hatte er es überhaupt als fertig angesehen? Null. Eins. Großes scheitert immer am Anfang, nie am Ziel. Noch nie hatte er von etwas gehört, das fertig war und plötzlich falsch.

Fünfundfünfzig. Neunundachtzig.

Die Zahlen waren nicht mehr sicher, jetzt wo er sah, wie brüchig ihre Grundfesten waren. Aber er konnte schließlich auch nicht hinaus, so weit hatte er sich frohen Mutes eingemauert, ohne eine Tür zu lassen. Mit festen Füßen in ungewusste Fehler einbetoniert.

Die Unruhe wuchs in ihm, er setzte sich, um ein paar neue Zahlen zu notieren. Einhundertvierunddreißig. Zweihundertdreiundzwanzig. Unter seinen geschlossenen Lidern prangte der Spalt. Wieder aufstehen, um ihn zu untersuchen. Null. Eins. Die unbeschriebenste, ursprünglichste aller Dichotonien: Nein. Ja. Nicht. Schon. An den Anfang der größtmöglichen Harmonie hatte jemand den ultimativen Gegensatz gesetzt und ihm dann an den Kopf geworfen. Es waren immer solche Momente gewesen, in denen er an höhere Wesen glaubte. Der Demiurg musste ein Sadist sein.

Dreihundertsiebenundfünfzig. Fünfhundertachtzig.

Die perfekte Reihe musste sich doch wehren, ihren lachhaften Ursprung zumindest im Nachhinein verbannen. Aber die Zahlen liefen weiter, keine Entschleunigung, kein Blick zurück. Den ließen sie ihm über, so musste er wohl ihre Rache führen. Ausbrechen, Einbrechen. Zum Einstürzen bringen? Die Ordnung in ihrem Ursprung zuführen. Weiterschreiben, die Zahlen zum Vorschlaghammer formen. Anheben.

Neunhundertsiebenunddreißig. Eintausendfünfhundertsiebzehn. Zweitausendvierhundertvierundfünfzig. Dreitausendneunhunderteinundsiebzig. Sechstausendvierhundertsechsundneunzig. Null. Eins.

Null. Eins.

Null. Eins.

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Dieser Text ist Teil des Projekt .txt auf neon|wilderness, Wort „Wahn.“



Mein Augenlicht in archiv,

Mein Augenlicht hatte ich in der Schule vergessen, weshalb ich am Heimweg das Elend, das mir ins Gesicht springen wollte, nicht bemerkte und folglich links liegen ließ.
Als ich am nächsten Tag wieder sehen wollte, war es schon mit jemand anderem gegangen und ich blieb weiterhin allein.
In Betracht der weiteren Geschehnisse wohl besser so. Denn das Elend wurde gemütlich und undurchsichtig. Als dieser andere, mit dem es mitgegangen war, erkannte, was es war, nämlich das Elend und nicht etwa eine selbstbefüllende Dose Bier, ließ er es ebenfalls bald – nahezu mit sofortiger Wirkung – links liegen, während dieser andere rechts weiterging. Was das Elend wütend machte und es dazu brachte, ihm mit hitzigem Geheul zu folgen. Was wiederum keinen gerade ruhigen Schlaf gewährleistete, wie der andere mir später gestand, als wir Freunde geworden waren. Und ruhiger Schlaf, der war und ist mir immer schon entscheidend gewesen.
Von all dem wusste ich nun aber nichts. Ich war daher betrübt. Und wie das so ist, führt die Betrübtheit zu nichts, außer Kurzschlussreaktionen.
Meinen Schuldigen an der Misere fand ich und begann daher immer häufiger, mein Augenlicht nach dem Unterricht mit den Filzpantoffeln in den Spind zu sperren. So übersah ich das meiste und erlebte ebenso viel.
Anfangs machte mir das Dunkel noch Angst, ich bereute mein Tun spätestens zuhause bei den auftretenden Problemen mit den Aufgaben. Auf so einen dunklen Tag gab ich mein Augenlicht wochenlang nicht aus der Hand.
Doch es war auch aufregend und so tat ich es immer wieder und häufiger. Bald wurden meine Schritte sicherer und mit etwas Geschick und List lernte ich auch im Unterricht unter dem Radar zu bleiben, was mir die ewigen Predigten der Lehrer mein Augenlicht betreffend ersparte. Ich kam also ganz gut durch.
Ich schaffte es, durch Übung und Präzision, die notwendige Langsamkeit zur Grazie zu formen und aus meiner Bewegung ohne mein Augenlicht ein Markenzeichen zu machen. Mit den Zeiten legte ich auch das letzte Stolpern ab, behielt mir aber die Distanz, ich war für alle stets in Sichtweite, aber auch nie näher. Als ich meinen Abschluss machte, war ich unfassbar geworden.
Die darauffolgenden Jahre waren von einem strahlenden Erfolg geprägt. Mein Augenlicht trug ich jetzt nur noch zu Anlässen. Bei diesen erklärte man mir dann stets unisono, wie glänzend dieses nicht sei, wie neu würde ich aussehend, unwissend, wie neu mir mein Augenlicht in Wirklichkeit war. So eroberte ich in einer ungesehenen Leichtigkeit Gesellschaften, in denen ich meiner Herkunft nach nicht einmal Sekt servieren hätte dürfen. Aber mein Auftreten war in diesen Kreisen schnell zu einer Sensation geworden und einem Spektakel stellt man keine Fragen, man liest ihm Wünsche von den Augen ab. Da ich keine hatte, nahmen sie mich herzlich auf und reichten mich durch die Ränge, bis ich eine Position erreicht hatte, die auch für mich ergiebig war.
Meine auftretende Unzulänglichkeit in Mode- und prinzipiellen Farbfragen überspielte ich mit einem Schwur auf schlichte Eleganz, mit schwarzen Anzügen konnte man glücklicherweise noch nie etwas falsch machen, was mir mein Augenlicht bei der Geburtstagsfeier meines alternden Förderers, dessen Geschäft ich bald darauf übernehmen sollte, bestätigte.
In der Position, die ich in diesem Unternehmen übernahm, wurde mein wahres Talent offensichtlich: Bauchentscheidungen. Ich hörte mich überall um und folgte dann blindlings meinem Gefühl und ließ danach agieren. Ich war ein Genie des Delegierens, ich war der unentbehrliche Mittelmann und tanzte am Parkett zwischen großen Männern und großen Informationen hin und sehr, so andächtig, dass mir viele bald aus freien Stücken ihre Fäden in die Hände legten.
Meinen Aufstieg durch die Gesellschaften konnte also kein Einhalt geboten werden. Denn sie alle vertrauten meinem Auftreten, meinem Antlitz, und ich entschied mich dazu, sie nicht zu enttäuschen. Also kam ich ganz gut durch.
Nach vielen Jahren gab ich Anfang diesen Jahres die Führung des Unternehmens meines Gönners, welches ich ganz zu meinem Geschäft gemacht hatte, ab und bezog am selben Tag meines Rückzugs aus dem Tagesgeschäft einen Aufsichtsratsposten. Und so tanzte ich auch dieses Jahr auf allen Parketts, die in meiner Branche von Bedeutung sind, Das war ein Glücksfall, wahrlich, denn es stellte sich bald nach meiner Pensionierung heraus, dass ich mich zuhause, als ich länger alleine und untätig war, nach meinem Augenlicht sehnte und begann, es immer häufiger aufzusetzen.
In mir wuchsen Erinnerungen an meine Kindheit, als ich noch gedankenlos mit ihm durch die Welt ging. So trug ich mein Augenlicht wieder mit ansteigender Regelmäßigkeit. Das besänftigte meine Retrospektive für eine Weile, doch als ich bemerkte, dass meine wachsende Sentimentalität zunehmende Gebrauchsspuren an meinem Augenlicht hinterließ, saß der Schock tief. Ich sperrte es rasch wieder ab und nahm mir vor, es in Zukunft noch spärlicher auszuführen.
So sah man mich wieder öfter in meinem alten Büro, wo ich allen hilfsbereit im Weg herumstand, bis meine Nachfolger eingestanden, dass sie auf meine blinde Gewissheit nicht verzichten wollten, ja, nicht konnten, weswegen sie mir einen Beraterposten anboten. Die Feierlichkeiten ließ ich allerdings immer mehr unbesucht verstreichen. Ich wollte mein Augenlicht nicht unnötig strapazieren und ohne entsprach es nun wirklich nicht der Abendgarderobe.
Doch ich hatte in den letzten Monaten das Gefühl, seit man mich nur noch im Büro, also nur noch ohne mein Augenlicht antraf, begannen die Menschen, den Respekt, den sie mir entgegenbrachten, von mir abzuziehen. Natürlich wurde auch jetzt noch jeder Rat, jeder Tipp, den ich von mir gab, minutiös umgesetzt, doch mir schien es, als ob sie es nur noch einer Idee von mir zuliebe taten, das aktuelle Ich, das war ihnen unverständlich geworden. Es war, als ob mit meinem Augenlicht auch das ihrige von der Bildfläche verschwunden war.
Allerdings konnte ich bisher mit diesem Gefühl gut leben und wollte keine Gedanken an mein Augenlicht oder an das Augenlicht anderer verschwenden. Seit Monatsanfang stürzte ich mich daher auf die Umstrukturierung, die ich vor Jahren angedacht, aber aufgrund des Fehlens des richtigen Umsetzers vor mir hergeschoben hatte. Nun, da ich das Tagesgeschäft abgegeben hatte, würde ich das selbst erledigen, dachte ich. Und ich ging mit festem Fuß ans Werk. Es geschah das, was ich mir erhofft hatte: Ich hatte eine neue Obsession gefunden. Aber bald erkannte ich, mit welcher Mühe es verbunden war, ohne Augenlicht tätig zu sein, ich verwand meine ganze Kraft darauf.
Vor zwei Wochen zog ich mich aus dem Büro zurück, der Anfahrtsweg schien mir eine überflüssige Verschwendung meiner Arbeitszeit zu sein. Zuhause stand mir dagegen nichts im Wege, den ganzen Tag mit dem Projekt zu verbringen. Irgendwo musste die Umstrukturierung ja beginnen.
So, vertieft in die systematische Veränderung der Welt um mich, fanden mich die Beamten vor, als sie heute um 11:15 läuteten. Sie mussten es mehrmals versuchen, bis ich sie hörte. Die letzten Nächte hatten zu wenig Schlaf gesehen, denn das Projekt nahm Formen an.
Ich hörte den einen, älteren Beamten etwas Längeres sagen, doch ich verstand nur, dass sie mich baten, sie auf das Revier zu begleiten. Schnell stimmte ich ein und zog mir die Schuhe an. Ob ich noch etwas anziehen wolle, fragte der jüngere Polizist, dafür wäre genug Zeit. Ich überlegte kurz, aber nein, das war kein Anlass für Festkleidung. Ich zog also nur eine Windjacke über.
Im Auto herrschte Stille. Ich wusste sie nicht zu deuten, da ich nicht wusste, zu welchem Zwicke sie mich abgeholt hatten. Durften sie nicht mit mir sprechen, wenn ich auf der Rückbank eines Polizeiwagens saß?
Ein Luftzug war spürbar, als der Mann vor mir sein Fenster öffnete. Er, es war der jüngere, fragte, ob das in Ordnung sei. Ich bejahte. Beistand zur Staatsgewalt, ich sah mich und meine Situation im Aufwind. Ich schien ganz gut durchzukommen.
Als wir am Revier zum Halten kamen, schien es mir, als wollte einer der beiden mir die Tür aufhalten, was mich wunderte, aber ich war schneller und stand schon neben dem Auto, als er bei mir ankam.
Beim Betreten des Gebäudes kam mir erstmals der Gedanke, dass es vermutlich hilfreich wäre, zu wissen, weshalb ich hier war. Worüber sie mit mir sprechen wollten.
In ruhiger, beruhigender Stimme des Älteren wurde der Name meines besten Freundes genannt und, dass ich jetzt sehr stark sein müsse. Ich verstand es nicht und als sie weitergingen in den nächsten Raum, konnte ich ihnen nicht folgen. Ein Beamter nahm mich am Arm. Ich müsse jetzt sehr stark sein, wiederholte er.
Man hatte ihn heute Morgen im Park gefunden. Kopfschuss, mitten durch die Ohren. Das Elend kniete neben ihm, als man ihn wegtrug. Ich verstand auch das nicht und fragte, was sie denn bitte von mir wollten, das solle man mir doch mitteilen. Identifizieren, wenn es geht. Ich war als seine Vertrauensperson eingetragen, auf einem Zettel, zusammengeknäult in seiner Geldbörse.
Es war ein Anlass. Ich konnte ihn nicht identifizieren, ich hatte mein Augenlicht zuhause gelassen. Ich wusste nicht, was zu tun war. Anscheinend zitterte ich, denn der Ältere legte seine Hand auf meinen Arm. Mein Atem beruhigte sich aber nicht, auch nicht, nachdem eine zweite Hand auf mir zu ruhen kam.
Ich brachte kein Wort heraus, ich wusste nicht, was ich tun konnte. Sollte ich der Polizei vielleicht sagen, dass ich mir nicht sicher war? Nein, das würde mir niemand abkaufen. Entweder er war es, oder er war es nicht.
Ich sollte ihnen einfach sagen, dass ich nicht fähig war, meinen Freund zu erkennen. Schlicht. Das war alles, was ich tun konnte, tun musste. Aber das konnte ich nicht, das würde alles zerstören, mein Leben, wie ich es kannte, wäre vorbei, wenn ich zugeben müsste, ohne mein Augenlicht auszukommen. Zwickmühle. Der Griff an meinem Arm wurde fester und auch das Zittern. Vielleicht zitterte ich nicht, vielleicht schüttelte der Mann mich auch, damit ich zu reden begänne. Nicht einmal das konnte ich unterscheiden. Ich hatte mein Augenlicht zuhause gelassen. Ich würde gestehen müssen.
Doch die Polizisten kamen mir zuvor. Mein Beileid, presste der Jüngere wie einen Befehl zwischen den Lippen hervor. Es klang aufrecht, so als ob er es ehrlich meinte, aber bis jetzt nicht die richtige Form dafür gefunden hätte.
Sie hatten mich aus der Affäre gezogen, meine körperliche Reaktion interpretiert, so dass ich kein Wort sagen musste. Entspannung. Ich hörte, wie eine Decke über etwas Kaltes gezogen wurde, wie sie für einen Moment an der Nase hängen blieb und sie im nächsten Moment zudeckte, für immer.  Vielleicht.
Ich drehte mich um und ging, nachdem ich mich vom Griff der Beamten gelöst hatte, wortlos. Ich nahm exakt den selben Weg zur Tür, auf dem ich herein gekommen war. Als ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen hörte, fing ich an zu laufen. Mein bester Freund war vielleicht tot.
Ich wurde blind schneller, ich kannte ja den Weg. Vielleicht. Ich verstand nichts mehr, weil ich mein Augenlicht nicht abnutzen hatte wollen. Hatte ich jemals verstanden? Wie konnte ich glauben, irgendetwas zu wissen, irgendetwas zu kennen, Menschen oder das Geschäft, wenn ich meinen Augen nicht trauen konnte? Die Leute in der Firma, am Parkett hatten mir vertraut, mein Freund nannte mich vielleicht gar seine Vertrauensperson. Ich beschloss, sie nicht zu enttäuschen.
Ich beschleunigte meinen Schritt, ich würde nach Hause laufen und meinem besten Freund, wenn er es denn war, die Ehre erweisen, samt meinem Augenlicht. Schneller. Und von da an würde ich es wieder mit mir führen, denn woher wusste ich denn, was die Menschen um mich wirklich taten? Folgten mir die Beamten? Vielleicht. Schneller. In die nächste Straße links einbiegen, dann geradeaus. Ich dachte daran, einen kleinen Umweg zu nehmen, um die Verfolger abzuschütteln, aber schon im nächsten Moment verwarf ich die Idee eiligst wieder. Sie hatten ja ihr Augenlicht, das brächte also nichts. Stattdessen wechselte ich die Straßenseite. Nicht so hektisch, ich fühlte Schwindel aufsteigen. Sie konnten nicht. Da war niemand. Mein bester Freund war vielleicht tot. Niemand war da. Ich beruhigte mich etwas, musste einen Fuß fest auf den Boden setzen. Schwinden.  Vorsicht üben, ich wollte nicht stolpern, also blieb ich stehen.
Mein bester Freund war vielleicht tot. Ich hörte wieder die Decke, die mich zudeckte, kurz.
Ich sollte Blumen kaufen. Vielleicht würde ich ja jetzt das Elend sehen, vielleicht, jetzt wo er weg war, war es immerhin allein. Sie hatten gesagt, es war im Park gewesen. Ich hatte das Gefühl, es war noch in der Gegend.



DYS 1.01: Set-up. in archiv,

dys101

Eine Bar. Gedimmtes Licht, rauchgedunkeltes Interior aus Holz, es blitzen nur die goldenen Zapfhähne auf, ab und an, aus dem Stimmengewirr tönen nur die zusammenstoßenden Kugeln auf den Billiardtischen heraus. Eine Bar.

Er tritt ein, hinter ihm fliegt die Tür zu, er kann gerade noch einen Schritt vorwärts machen, um seine Achillesferse vor dem Schlag des Flügels zu schützen. Vielleicht ist das eine Taktik, Unentschlossene so einen ganzen Schritt hinein ins Lokal zu zwingen. Da entscheidet man sich gleich viel leichter, zu bleiben. Alles ist Marketing.

Diese Gedanken gehen Viktor zwar wie immer durch den Kopf, allerdings in enier mit Highspeed komprimierten Form, während sein Blick schon durch den Raum, bei den üblichen Verdächtigen anhaltend, rast und nach einem Schild mit der neonleuchtenden Aufschrift „WC“ sucht. Noch ist dies nicht von Erfolg gekrönt und er wäre trotz rapide steigendem Harndrangs schon wieder geflohen, wäre da nicht der Marketinggag mit der zufliegenden Schwingtüre gewesen. Viktor steht also mitten in einer Bar, einem Etablissement, in dem vorrangig Bier ausgeschenkt wird. Noch immer kein Hinweis auf Toiletten. Alles wird dunkler, außer den Zapfanlagen, die noch stärker im Goldblitz stehen. Er erinnert sich plötzlich an all jene traumatischen Kindheitserinnerungen, aber nicht mal die sind genug, um seine höfliche Angst zu überwinden und einfach zu fragen, nein. Die Angst davor, jemandem zur Last zu fallen, ist für Viktor größer als alles. Höflichkeit trumpft sogar nasse Hosen.

Doch dann ein Wunder! Der Barkeeper nickt wissend und deutet zum hinteren Ende des Raumes, dort wo im Halbdunkel Billiardkugeln aufeinanderstoßen. Er versteht und Viktor folgt dankbar seinem Weis. Schnell geht er vorbei an besetzten Tischen und an auf Hochtouren laufenden Spielen  – im Augenwinkel sieht er einen Alten blöffen – ins hinterste Eck, wo eine kleine Tafel, ganz ohne Neonaufschrift, das Bad ausschildert. Das Ziel vor Augen.

„Hi!“

Viktor sieht die Stimme nicht, nur die einmal weiß gewesene Tür mit dem Männchen darauf, er muss erst seinen Blick enttunneln.

„Hi!“

Eine Stimme aus der Abteilung Produktdesign. Er lächelt, deutet aber seine präkere Lage an, es wird genickt und gelächelt. Erleichtert biegt er ein.

Eintreten, absperren. Freiheit.

Die Wände der Kabine sind beschmiert. Der schmale Aufbau provoziert aus der sitzenden Perspektive geradezu claustrophobische Gedanken.

Viktor taucht in den Bildschirm in seine Hand ab, um diese Gedanken abzuschütteln, braucht es die unendlichen Weiten des Internets. Danke Steve Jobs und wer auch immer das Genie hinter dem Android-System ist. Ihr habt die gefühlt ewigen Aufenthalte auf öffentlichen Toilettenanlagen zwar zeitlich exponentiell verlängert, die Zeit in den engen Kästen aber erst richtig überlebbar gemacht. Viktor ist immer geneigt, eine der Nummern anzurufen, nur um zu sehen, wer abhebt. Er weiß, dass es dumm ist.

Ohne es zu merken, hat er die Ziffern getippt. Aber er hat genug Eigenbestimmung, um nicht zu wählen. Stattdessen öffnet er das SMS-Fenster, vielleicht will er später noch schreiben, aber im Moment beschäftigt ihn schon wieder ein anderer Gedanke:

Wie heißt „Hi!“ vom Produktdesign?

FADEOUT.



iterationen ist mein digitales journal.

Iterationen deshalb, weil das hier eine neue Iteration einer alten, sich entwickelten Instanz ist, aber auch weil sich hier immer neue Iterationen von Gedanken finden werden.