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Wie aufgezogen | Molières „Eingebildeter Kranke“ tänzelt im Burgtheater in archiv,

2015-12-08 18.03.25-2

Herbert Fritsch, der ehemalige Castorf-Mime und multimedialer Genius der Bühnenkunst, inszenierte zum ersten Mal in Wien. Mit Molières letztes Hurra, dem eingebildeten Kranken, liefert er ein Gesamtspektakel ab.

Das erste Wort, dass mir in den Kopf kam, als die typischen für Fritsch sehr schrille Inszenierung, die ebenso typisch neonbunt ausstaffiert ist, begann, war Spieluhr. Wie eine Spieluhr startet das Stück gleich mit voller Geschwindigkeit los, es gibt keine sachte Einführung, kein Gewöhnen. Und wie in einer Spieluhr funktionieren alle Figuren samt ihren Bewegungen entlang unsichtbaren Bahnen im Takt des omnipräsenten Cembalo-Stacchatos. Drei Cembalos bilden auch das Bühnenbild, von ihnen geht die Struktur der gesamten Inszenierung aus.

In einem so mechanisierten Bühnenstück muss natürlich am sehr umfangreichen Text gespart werden, was zwar zu manch kleiner Undeutlichkeit und Unschärfe führt, aber der Unmittelbarkeit der Aufführung in die Hände spielt. Gerade Joachim Meyerhoff als Monsieur Argan kann seine große körperliche Spielweise und seine fast schon charakteristische zum Wahnsinn tendierende Verzweiflung hier voll zur Geltung bringen und tänzelt so um die schon längst offenbaren Tatsachen der Untreue seiner Frau, die mit unglaublich packend-reißendem Diktum als metallisch anmutende Ballettpuppe spielende Dorothee Hartinger, oder allem voran natürlich den falschen diagnostischen Spielen seiner vielen Ärzte herum.

Der Automatismus, mit dem sich die Bewegungen und die manches Mal rasant hervorsprudelnde Sprache auf der Bühne entfalten, transportiert den Geist des Modus Comédie francaise – die Dramengattung, nicht das Theaterhaus – in die Gegenwart, ohne dem wohl schon verstaubten Tanztheater nachzuweinen. Es ist das Tänzeln, aus dem diese Inszenierung ihre Energie gewinnt und aus dem der Konnex zum aktuellen Selbstverständnis entnommen werden kann: Wir sind vielleicht nicht so gutgläubig wie Ardan oder gar so medizinkritisch wie das Hausmädchen Toinette, genial gespielt vom eingesprungenen Markus Meyer, aber doch tänzeln wir wie die Figuren Molières um Diagnosen, unwillig und unfähig vielleicht, zur Ruhe zu kommen. Der Takt des Cembalos ist der Takt einer Welt, die sich auch ohne die Kranken weiterdreht und diesem Takt muss Folge leisten, wer nicht zurückbleiben will. Und wem das Taktgefühl abhanden kommt, für den liegen die passenden Mittelchen, Klistierchen und Injektionen schon bereit.

Natürlich lässt Fritsch viel Textimmanentes außen vor. Aber das ist, was Inszenierungen tun: Konzentration auf Aspekte, was schon impliziert, das andere Aspekte aus dem Fokus geraten oder wegfallen. Bei allen inhaltlichen Schwachstellen, die Konzentration auf Struktur und Modus ist auf voller Länge gelungen.

 

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