Ausgehend von der Annahme, dass wir als sinnbegabte und bewegende Wesen durch die Welt wandeln und durch unser Handeln und schon davor grundsätzlich durch unser Existieren die Welt gestalten, möglicherweise die Welt überhaupt konstruieren und aufbauen, ist die These, das uns alles Umgebende Material für diese Weltgestaltung ist, wie kleinteilig, miniskul und temporär sie auch ist.
Auf dieser Grundlage müssen wir uns eingestehen, dass wir im Umkehrschluss auch selbst als Material für die uns umgebenden gestaltenden Kräfte benutzt werden. Es ist gerade diese Natur als Material, welche Bewegung und damit Beziehung ermöglicht, Das Materialsein ist keine Abwertung unserer Existenz, auf einer idealistischen Ebene, es macht uns nicht zu einem willenlosen Werkzeug in den Händen anderer, potenziell höherer Kräfte, auf welche ich noch kommen will, und auch das oftmals strapazierte Bild der formbaren Masse bietet keine recht funktionale Passform.
Überhaupt erweist sich das hierarchische Gebäude, welches stets eine benutzende und eine benutzte Entität definiert und diese tendenziell auf einer krankhaften Intensität von Ungleichheit nicht als Benutzen, sondern als Ausnutzen formiert, als ein ebenso kränkliches wie omnipräsentes Strukturelement und Werkzeug unser zeitgenössischen wie historischen Markt- und Arbeitsverhältnisse. Einer Kritik dieser Zustände entspringt dann auch folgerichtig eine negative Sichtweise auf das Materialsein, woraus eine verständliche Kritik an allen Verhältnissen, die Menschen zu einer solchen Position des Materialseins bringen, formuliert wird.
Nun ist eine solche Zuschreibung als Material und nur als Material beziehungsweise daraus resultierende Materialketten, die parallel zu Produktionsketten einseitig nach unten hin die Eigenschaften des Materialseins weitergeben, meiner Ansicht nach ein fehlerhafter Auswuchs dieser benannten Markt- und Arbeitsverhältnisse, welcher durch die scheinbare Freiheit des Neoliberalismus nur maskiert und unterfüttert werden.
Ein wahres – also wahrhaftiges – Materialsein kann also nur ein dialektisches sein. Nur so entflieht es den Abhängigkeiten, die es schaffen würde, wenn nicht. In unseren Aktionen und Verhältnissen muss uns also klar bewusst sein, dass wir als Agierende, in dem Moment, in welchem wir uns etwas oder jemand anderes außerhalb unserer selbst zum Material machen, selbst zu deren Material erklären. Zunächst stellt dieses Zurverfügungstellen eine Abweichung von der Norm, einen Sonderzustand dar. Dem Gedanken weiterfolgend, wird aber schnell klar, dass wirklich nicht das Materialsein und auch nicht das Materialverwenden ein außergewöhnlicher Zustand ist, sondern der ruhende, weder verwendende noch verwendete Mensch ein absoluter Sonderfall, ja, eher noch eine kategorische Utopie und reines theoretisches Hilfskonstrukt ist. Vielmehr ist das wechselwirkende Materialsein ein essenzieller Ausdruck der grundlegenden zwischenmenschlichen Konnektivität. Darauf folgt eine Umwertung der Materialexistenz, die schließlich den Kern und die These dieses kurzen Texts bilden wird.
Denn wenn wir – was, wie ich glaube, konsensfähig ist – die zwischenmenschliche Konnektivität als einen positiven und darüber hinaus sogar als einen erstrebenswerten Aspekt des menschlichen Daseins annehmen, dann erhält das Materialsein in der Folge unweigerlich auch eine positive Konnotation, was gegenüber dem allgemeinen neoliberal-ausbeuterischen status quo, der vielmals auf eine systematische Maskierung des menschlichen Materials hinausläuft, eine ungemeine Aufwertung bedeutet.
Eine solche neue Sichtbarkeit der Materialität der zwischenmenschlichen Existenz gilt es nun erstmal zu etablierten, zuerst in der eigenen Wahrnehmung, dann in einem öffentlichen Diskurs: Die Dialektik des Materialseins muss offensiv performt und ausgestellt werden, denn es ist ine der Wissenssätze unseres Lebens, die uns inhärent bekannt sind, die aber vom zeitgenössischen (wie historischen) Kontext in einem so übertönenden Ausmaß überstrahlt werden, dass sie uns nicht mehr inhärent bewusst sind, sogar als fremd oder falsch gelesen werden. Wir müssen also unser Materialsein aus dem Nebel heben.
Womit dieser Text an einem Punkt angelangt ist, zu erwähnen, wie ich überhaupt an dieses Thema geraten bin.
Alexis Eynaudis Performance Chesterfield kehrt die Natur der Performenden als Material an vorderste Front. Schon meine erste Notiz – geschrieben während einem Probendurchlauf im vergangenen November, dem ich beiwohnte – ist ein Zeichen, wie prävalent die Dialektik im Tanzstück, das vom brut koproduziert Anfang Dezember 2017 im Volkskundemuseum Wien zu sehen war, ist.
Denn Chesterfield performt nicht nur ein Zurverfügungstellen des eigenen Körpers, um Material einer Performance zu werden, sondern beschäftigt sich intensiv mit der anderen Seite der Gleichung, die aus der Sackgasse einer selbstvergessenden Aufopferung hinaus führen. Denn wenn Alix Eynaudi sich zur Brücke wandelt, um ein Umfeld für den Akt der Bewegung unter dieser Brücke hindurch zu werden, oder ihre Beine so positioniert, dass sie jemanden als Sitz dienen können, so macht sie sich zu zur Verführung stehendem Material für diese Akte, ja. Aber gleichsam werden diejenigen, die diese Akte durchführen, zu ihrem Material. Was im Kern der leisen Bewegungen in Chesterfield steckt, ist die Tatsache/Annahme, dass Material ein unsere Existenz mitbegründender Anteil ist. Nicht die Performende, welche Material wird, wird benutzt, viel mehr liegt der Flow inversiert vor: Wenn sie zum Sitz/zur Lehne/zur Stütze wird, benutzt sie diejenige, die sich an sie lehnt. Agentielle Ordnung geht von den Materialmenschen aus, sie ordnen die Benutzenden so an, um sich das Materialsein zu ermöglichen.
Die Choreografie Eynaudis macht deutlich, was der Dialektik des Materialsseins – weitergedacht – fehlt, ein Fehlen, das sie final von den ausbeutenden Machtstrukturen trennt: Sie besitzt keinerlei hierarchische Anordnung. Denn Materialsein und Materialnutzen sind nicht getrennt möglich, niemand benutzt jemanden der benutzt wird, dauerhaft. Nutzen und Benutztsein, Ziehen und Sein sind ein und dieselbe Instanz, denn wenn der Sessel die Sitzenden benutzt, um sein Sesselsein ausüben zu können, also das Material die Materialisierenden nutzt, werden eben diese Materialisierenden zum Material der Performance seines Materialseins.
Die Tänzerin und Choreografin übersetzt diese Dialektik weiter auf Sprache, deren Gesprochenes nebensächlich bis irrelevant ist, ist sie doch vor allem eingesetzt, um einen Grund zu sprechen zu haben. Auch auf die in der Inszenierung sehr zentrale Materialität des Werkstoffs Leder, die der unmissverständlichen Körperlichkeit der Choreografie akzentuierend zuarbeitet, wird sie übertragen.
Aus einer Dialektik des Materialseins lassen sich ohne größere Mühe Schlüsse aus den Ecken der Selbsthilfe und -optimierung ziehen: Wir müssen uns selbst als das Material wahrnehmen, das wir brauchen, um uns nach unseren Vorstellungen zu formen.
Eine solche Lesart ist einfach und, denke ich, zu kurz gegriffen. Es liegt wenig widerständiges Potenzial darin, uns als Material wiederum nur auf uns selbst zu beziehen. Viel stärker kann eine Öffnung wirken. Eine Dialektik des Materialseins greift nach einer Zurverführungstellung und damit einer Bezugnahme. Sie fordert auf, sich zusammenzutun.